Die Wurzel des Übels

Gegen kaum eine Behandlung existieren so viele Vorurteile wie gegen die Wurzelkanalbehandlung. Viele Menschen fürchten sie, haben aber auch grundsätzlich falsche Vorstellungen von ihr. Es ist an der Zeit für mehr Toleranz und Verständnis für eine Behandlung, die doch nur eines will: Zähne retten.
Eröffnung
Im Fachjargon nennen wir die Wurzelkanalbehandlung eine endondontische Behandlung. Liebevoller Spitzname: Endo.
Patienten ist sie als Wurzelkanalbehandlung, Wurzelbehandlung, Nerv-Ziehen oder auch Wurzel-Ziehen bekannt.
Tun Sie mir einen Gefallen und vergessen Sie das „Wurzel-Ziehen“ schnell wieder. Wenn ein Zahnarzt eine Wurzel zieht, ist in der Regel der Hauptteil des Zahnes abgebrochen und der im Knochen verbleibende Rest muss chirurgisch entfernt werden. Mit einer Wurzelkanalbehandlung hat das gar nichts zu tun. Die Wurzelkanalbehandlung gilt dem Zahnerhalt, und ihm allein.
Anatomisch gesehen ist die Zahnwurzel der Teil des Zahns, der ihn im Knochen verankert. Das geht Hand in Hand mit dem Baum, der im Boden verwurzelt ist. Oberhalb von Knochen und Zahnfleisch befindet sich die Zahnkrone, die wir mit Baumstamm und Baumkrone gleichsetzen können. So weit, so gut.
Der Sache auf den Nerv gehen
Jeder Zahn hat erst einmal ein Eigenleben. Er fühlt Kälte und Wärme, spürt, wenn wir auf etwas Hartes beißen, spürt das Kauen ganz insgesamt. Das ermöglicht ihm der Zahnnerv in seinem Inneren, die Pulpa. Wir nennen sie „den Nerv“, dabei stimmt das eigentlich nicht ganz. Die Struktur, die den Zahn durchzieht, ist ein Gemisch aus Nervenfasern und Blutgefäßen. Sie kümmert sich um den Zahn, versorgt ihn mit allem, was er eben so braucht, und warnt uns, wenn etwas nicht stimmt. Jeder Schmerzreiz, den ein Zahnnerv ausstößt, ist letztendlich nichts Anderes als ein Hilferuf.
Dieser Nerv liegt in einem Hohlraum im Zahninneren, das sich wie ein Kanalsystem im Zahn ausbreitet, von der Krone bis in die Wurzelspitze – darum Wurzel-kanal-behandlung. Die Anzahl der Kanäle hängt vom Typ des Zahns ab, also ob wir uns einen Frontzahn, einen Eckzahn, einen kleinen oder einen großen Backenzahn anschauen, und ob wir über Oberkiefer- oder Unterkieferzähne sprechen. Insgesamt sind ein bis vier Wurzelkanäle möglich, die sich statistisch unterschiedlich verteilen. Im Rahmen dieser Statistik ist alles erlaubt, Überraschungen lauern überall.
Entnervt
Bei einer Wurzelkanalbehandlung wird der Zahnnerv eröffnet, indem ein Loch in die Zahnkrone gebohrt wird. Der Nerv oder seine Reste werden mit runden Feilen entfernt, die ein wenig an biegsame Nadeln erinnern. Im Idealfall gelingt es dabei, sich bis ganz zur Wurzelspitze vorzutasten, aber das ist nicht immer ganz einfach. Man braucht Geduld, Spucke, Fingerspitzengefühl und gelegentlich auch eine Prise Glück.
Die Wurzelkanäle werden erweitert und gereinigt. Dazu dienen verschiedene Spüllösungen und unterschiedliche Medikamente. Am Ende des Tages wird der entstandene Hohlraum im Zahn mit einem gummiartigen Füllmaterial gefüllt.
In der Regel muss die Behandlung in mehrere Sitzungen aufgeteilt werden. Manchmal verbietet ein akuter Schmerzzustand die Weiterbehandlung in der ersten Sitzung. Viel öfter aber liegt das daran, dass bestimmte Medikamente, zum Beispiel antibiotische Salben, in das Kanalsystem eingebracht werden. Diese Medikamente haben bestimmte Liegedauern, um optimal wirken zu können. Drei Zahnarztbesuche, um einen Zahn zu behandeln, sind völlig normal.
Dass eine Wurzelkanalbehandlung überhaupt nötig wird, kann unter Anderem folgende Gründe haben:
Wenn die Nerven blankliegen
Es gibt den Fall, dass die Hilferufe des Zahnes (z.B. im Fall einer Karies) zu lange ignoriert wurden und jede Hilfe zu spät kommt. Der Nerv steigert sich in einen Schmerzzustand hinein, der so eindrucksvoll ist, dass die Leute am liebsten die Wände hochgehen würden. Wie lange dieser Zustand anhält, ist von Mal zu Mal unterschiedlich.
Die Wurzelkanalbehandlung dient in diesem Fall der Schmerzausschaltung. Lieber wird der Zahnnerv kontrolliert abgetötet, als dass der Patient noch tagelang mit Schmerzen herumlaufen muss und vielleicht sogar Schmerzmittel futtert, als seien es Smarties.
Manch einer ist sehr hart im Nehmen. Gehen diese Patienten noch immer nicht zum Zahnarzt, ist eins gewiss: Dieser Schmerz ist das letzte Aufbäumen des Zahnnervs. Wie bei einem Selbstzerstörungsmechanismus ist die Schmerz-Explosion das letzte Aufflammen, ehe alles Licht erlischt.
Oftmals wachen die Leute nach einer schlaflosen Nacht auf und stellen fest: „Toll, der Schmerz ist weg. Ich merke gar nichts mehr!“. Genauso oft sagt dann der Zahnarzt beim nächsten Besuch: „Ups, ich glaube, da müssen wir ran.“
Innerlich tot
Ist der Zahnnerv erst einmal abgestorben, kann er seine natürliche Schutzfunktion nicht mehr erfüllen. Die Reste des Nervs bilden sich zurück und das Kanalsystem wird hohl: der perfekte Rückzugsort für Bakterien. Meistens sind die Übeltäter gar nicht fern, vor allem Kariesbakterien, da sie oft genug Auslöser für die ganze Misere sind. Sind sie im Wurzelkanal angekommen, gehen die Probleme in die zweite Runde. Die Schmerzfreiheit ist nicht von Dauer.
Da der Zahn an sich nichts mehr mitbekommen kann, ist es dieses Mal der Kieferknochen, der schmerzt. Die Leute beklagen einen dumpfen, ausstrahlenden Schmerz, teils pochend, teils pulsierend. Die Zähne können aufbiss- und klopfempfindlich sein. Manchmal werden sie sogar locker. Oft genug passiert es auch, dass man gar nicht mehr zuordnen kann, wo der Schmerz überhaupt herkommt. Oben, unten, vorne, hinten? Oder schmerzt eigentlich doch viel mehr das Ohr? Oder ist es das Kiefergelenk? Die Nasennebenhöhle?
All das kann es in diesem Zustand schwer machen, die richtige Diagnose zu stellen. Ein Röntgenbild kann helfen, denn dort erkennt man Entzündungszustände von toten Zähnen als typische dunkle Verfärbung an den Wurzelspitzen.
Friedlich entschlafen
Es gibt auch den Fall, dass ein Zahnnerv leise, still und heimlich abstirbt, ganz ohne Explosion und Schmerz. Manchmal war nicht einmal eine Karies am Werk. In diesen Fällen kann man oft genug ohne Spritze im Zahn herumbohren und die Behandlung durchführen – der merkt nämlich nix mehr.
Der Hintergrund für dieses Absterben ist, vereinfacht ausgedrückt, dass der Zahnnerv zu seiner Lebenszeit ein unglaublich gutes Gedächtnis hat. Und, oh ja, er ist nachtragend. Meine Patienten werden den folgenden Vergleich kennen von mir schon kennen:
Unser Zahnnerv ist wie ein Elefant. Er merkt sich einfach alles. Da war mal eine Karies? Dann wurde gebohrt? Die Füllung ist noch immer super, eigentlich nichts zu beanstanden, seit Jahren stabil? Ist ihm egal, er zickt. Hoppla, da hat der Zahn mal einen Schlag abbekommen? Das ist dreißig Jahre her und seitdem war nie mehr was? Ist ihm egal, er zickt.
Größere Traumata, die ein Zahn erleiden musste, erhöhen natürlich auch das Risiko, dass ein Zahnnerv einmal Probleme macht. Aber auch vermeintliche Kleinigkeiten können ein Risiko sein, Zahnspangen zum Beispiel. Denn ja, auch die sind nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen.
Ein schönes Stichwort, übrigens…
Risiken und Nebenwirkungen
Eine Wurzelkanalbehandlung ist immer und ausnahmslos der letzte Versuch, einen Zahn langfristig zu erhalten.
Sogar eine perfekte Wurzelkanalbehandlung muss nicht zwingend eine Garantie sein, dass der Zahn sich jetzt vorbildlich verhält. Manchmal verstecken sich Bakterien in winzigen Nebenkanälen, die nicht zu behandeln sind. Manchmal kleben sie außerhalb an der Wurzelspitze, einen halben Millimeter zu weit vom Kanal entfernt, um vom Zahnarzt erwischt zu werden. Wenn sich ein wurzelkanalbehandelter Zahn ein zweites Mal infiziert, heißt es darum meist: Game Over.
(Der aller, allerletzte Versuch zum Zahnerhalt wären die Revision einer Wurzelkanalbehandlung sowie die Wurzelspitzenresektion. Dazu vielleicht später einmal mehr.)
Es kommt auch vor, dass ein Zahn von Anfang an nicht mitspielen will. Wurzelkanalbehandelte Zähne können auch eher mal brechen als gesunde Zähne. Die Behandlung kann außerdem sehr schwierig sein und Komplikationen können dazu führen, dass der Zahn nicht erhalten werden kann.
Dennoch: Nichts, wirklich gar nichts ist so gut wie der eigene Zahn. Sogar dann, wenn er schon ein wenig in Mitleidenschaft gezogen ist. Und auch, wenn er innerlich tot ist.
Wenn jemand Sorgen hat, solch einen untoten Zahn zwischen den lebenden herumzutragen, bleiben nicht viele Alternativen. Wird die Wurzelkanalbehandlung abgelehnt oder scheitert sie, droht die Zahnentfernung. Darum sehen Sie die Wurzelkanalbehandlung als Ihren Freund, nicht als Feind. Sie ist die lebensverlängernde Maßnahme für Ihren Zahn, und es gibt viele, die jahrzehntelang mit wurzelkanalbehandelten Zähnen auskommen und keinerlei Beschwerden haben. Die Gesamtprognose ist sehr, sehr gut.
Zum Abschluss
Wir mögen keine Vorurteile, sogar dann, wenn es nur Zahnbehandlungen betrifft. Im Namen der Toleranz hoffe ich deshalb, Ihnen die Wurzelkanalbehandlung ein wenig nähergebracht zu haben.
Ich danke Ihnen fürs Lesen und Ihr Interesse.
Machen Sie´s gut und bleiben Sie gesund,
Dr. Marianne Skroch